by jupp
Lena Meyer-Landrut ist wieder da, fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrem medialen Urknall bei „Unser Star für Oslo“. „Unser Song für Deutschland“ heißt die Sendung jetzt, und es ist wohl unvermeidlich, dass Lenas jetzige Auftritte mit denen vor einem Jahr verglichen werden. Diese Vergleiche, das kann man nach den vorliegenden Presse- und Internetreaktionen auf die erste Show von USFD sicher sagen, fallen eher enttäuscht aus.
Es gibt in der Tat gute Gründe, das ganze Projekt einer „Titelverteidigung“ skeptisch zu betrachten. Man kann auch legitimerweise das Konzept der USFD-Shows langweilig und manches Lied mittelmäßig finden. Das soll hier nicht Thema sein. Es geht vielmehr um eine in den Kritiken immer wieder und in vielfacher Variation angestimmte Klage: Lenas „Natürlichkeit“, ihr „Charme des Unbeholfenen“ seien verschwunden. Einige sprechen auch ganz unverhohlen aus, was sie damit meinen, nämlich die „Naivität“, die vermeintliche unschuldige Unbedarftheit der Sängerin. All das scheint im Nachhinein ein Statement zu bestätigen, das vor einigen Wochen aus einem Protokoll des ARD-Programmbeirats anlässlich der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises gesickert war und in Windeseile durch die Presse ging: Man sei enttäuscht, dass Lena „ihre Unbefangenheit verloren“ habe und „nur noch eine Rolle“ spiele.
Wir wollen annehmen, dass viele, die diese Klage äußern, sich gar nichts Böses dabei denken. Dennoch verdient sie unnachsichtige Kritik.
In üblichen Musik-Castingshows – das wissen inzwischen alle und es wird auch von den Machern dieser Formate gar nicht verheimlicht – geht es nicht um Musik. Es geht um die melodramatisierte Präsentation von persönlichen Schicksalen und die möglichst kontroverse Inszenierung der Charaktere derjenigen, die sich auf den Schaukampf einlassen. Was man braucht, sind möglichst ungeschminkt in Tränen des Glücks oder der Verzweiflung ausbrechende Kandidaten, schüchterne Naturtalente mit Kulleraugen neben hemmungslosen Selbstdarstellern, vor allem aber die Streitereien, Entzweiungen, Versöhnungen und emotionalen Zusammenbrüche, die entstehen, wenn man die Bedauernswerten für Wochen unter Dauerstress in eine Art WG sperrt. Was das Publikum dabei sehen will, sind Personen, mit denen es mitleiden und sich identifizieren kann. Als solche werden sie zurechtgemacht und ihm vorgeführt. Denn das ist das Versprechen: Sieh’ hin, die Kandidaten sind genauso wie du, und wir machen aus ihnen einen Star. Das geschieht durch den üblichen Casting-Drill: neue Frisur, neue Klamotten, neues Styling, Gesangscoaching, Tanzcoaching, Mut- und Bewährungsproben, ständige Überprüfungen und Beurteilungen durch die Jury.
Der entscheidende Punkt ist: Diejenigen, die am Ende „erfolgreich“ aus diesem Prozess hervorgehen, haben sich durch die Sendung und das, was ihnen in dieser abverlangt wurde, in totale Kunstprodukte verwandelt. Sie sehen auf der Bühne tatsächlich mehr oder weniger aus wie kleine Klone von „Popstars“. In der Art, wie sie singen, tanzen, gehen und reden, ist ihnen jede Natürlichkeit ausgetrieben worden. Sie brechen nicht mehr in Tränen aus und fallen heulend ihrer besten Freundin in den Arm. Statt dessen geben sie locker Interviews. Sie sind ja jetzt „Profis“. Mit anderen Worten: Es ist ihnen exakt das einzige weggenommen worden, dem sie zu Beginn des Castingprozesses ihre Popularität verdankten – ihre ungeschützte Unbedarftheit. Diese schlichte Tatsache erklärt in eleganter Weise, wieso sich für das vollendete Castingprodukt – den vermeintlichen „Star“ – schon nach vier Wochen kein Mensch mehr interessiert. Um seine Musik ging es ja nicht. Es ging um das Schicksal und um die anrührende Naivität vor der Kamera. Diese liefert der „Star“ am Ende nicht mehr. Das ist sein Todesurteil. Er kann gehen, wie der Hund, den man aussetzt, wenn er aufgehört hat, ein süßer, tapsiger Welpe zu sein. Schon drei Monate später beginnt ja die neue Staffel mit reichlich Casting-Frischfleisch.
Die – bei aller berechtigten Kritik an Einzelpunkten der Sendung – immer wieder hervorhebenswerte Besonderheit von Stefan Raabs „Unser Song für Deutschland“ besteht darin, diese Logik zu durchbrechen. Raab hat sich geweigert, ein Jahr nach LML einen neuen Star zu suchen, und hat dies als „ethisches“ Erfordernis charakterisiert. Diese Haltung ist vielfach gar nicht verstanden worden. Es geht aber genau darum, die Gier des Publikums nach neuer, frischer Naivität und Unbedarftheit nicht zu stillen, sondern ein wahrhaftes Talent tatsächlich zu einer ernst zu nehmenden Sängerin heranwachsen zu lassen. Es geht um den Versuch, ihren Erfolg gerade nicht auf der Mumifizierung des naiven Zaubers aufzubauen, der allem Anfang innewohnt, sondern auf einem Prozess der musikalischen Weiterentwicklung und der persönlichen Reifung – selbst um den Preis, dass man am Ende vielleicht Schwierigkeiten haben wird, ernsthaft zu glauben, die Person auf der Bühne sei dieselbe wie das unbekümmerte Mädchen von einst.
Wer ernsthaft erwartet, man könne einer 19-jährigen den Gewinn des größten Musikspektakels der Welt, ein europaweites Erfolgsalbum und eine Hitsingle, dutzende Fernsehauftritte, zahllose Interviews, mehrere Medienpreise und einen Riesen-Werbevertrag umhängen, ohne dass sie sich dabei verändert und ihre Unbekümmertheit und überbordende Spontaneität zu kontrollieren lernt, ist dumm. Wer das weiß, es aber beklagt, weil er seine Einschaltquoten schwinden sieht – wie offenbar Personen im ARD-Fernsehbeirat – ist zynisch. Er sagt nicht mehr und nicht weniger, als dass er der üblichen Casting-Logik nachtrauert. Wer aber dies tut und gleichzeitig keine Gelegenheit verstreichen lässt, in pathetisch-moralischem Ton über die Verkommenheit von „Deutschland sucht den Superstar“ und „Dschungelcamp“ zu greinen, ist verlogen. Man möchte dergleichen in Zukunft aus dieser Richtung bitte nicht mehr hören.
Lena Meyer-Landrut kann nicht, wird nicht und soll nicht für immer die unbekümmerte USFO-Lena sein. Wer unter ihrem Zauber immer wieder nur ihren zu Herzen gehenden Jubel nach „My Same“ oder ihre Tränen beim Gewinn des Finales begreifen kann und nicht offen für Neues von ihrer Seite ist, wird das Beste verpassen. Es gibt keinen zweiten Urknall. Man kommt nur einmal zur Welt. Und das ist gut so. Man liebt einen Menschen nicht, indem man ihn zwingt, ständig so zu bleiben, wie er war, als man ihn das erste Mal sah, sondern indem man sich darauf freut, mit ihm gemeinsam zu erleben, was aus ihm wird.