by pete
Nun, da drei abendfüllende Fernseh-Liveshows zur prime time absolviert sind, Lenas neues Album Good News wie schon sein Vorgänger aus dem Stand Platz 1 der Albumcharts erobert und dabei innerhalb nur einer Woche Goldstatus erreicht hat und die verbleibenden Tickets für ihre im April anstehende Tournee durch die neun größten Hallen der Republik knapp werden, ist es angebracht noch einmal zu staunen: über dieses merkwürdige Zusammentreffen von perfektem Kalkül und atemberaubendem Zufall, das innerhalb eines Jahres aus einer sehr hübschen, sehr aufgeweckten Schülerin mit unspezifischen künstlerischen Ambitionen eine beinahe schon arrivierte Gesangskünstlerin mit Superstarperspektive gemacht hat. Um zu ermessen, wie sehr diese rasante Entwicklung sich von üblichen Castingsternchen-Karrieren unterscheidet, müssen wir noch einmal zurückblicken.
Am späten Abend des 2. Februar 2010 betrat eine gewisse Lena Meyer-Landrut, Gesamtschülerin, 18 Jahre alt, fast ohne jegliche einschlägige Erfahrung die Bühne eines Fernsehstudios in Köln-Mülheim, in dem eine Fernsehshow produziert wurde, die kaum geeignet war, die gespannte Aufmerksamkeit des TV-Publikums auf sich zu ziehen. Das Ziel dieser Sendung, die sieben Fortsetzungen zeitigen sollte, konnte kaum trostloser sein: Für das trashigste, gleichwohl größte Musikspektakel der Welt, den Eurovision Song Contest, im Volksmund “Grand Prix” genannt, sollte ein deutscher Teilnehmer gefunden werden. Nach den peinlichen Auftritten und den verdienten letzten Plätzen der vergangenen Jahre versprach diese Aussicht weder für die Zuschauer noch für die Kandidaten großen Lohn; einzig die Erfahrung, dass der Name Stefan Raab in der Vergangenheit immerhin für einen fünften, einen siebten und einen achten Platz gut gewesen war, mochte ein wenig Trost spenden. Entsprechend brav und unspektakulär ging die erste Show ohne nennenswerte Höhepunkte über die Bühne.
Bis eben besagte Lena Meyer-Landrut als zehnte und letzte Kandidatin die Bühne betrat. Es lässt sich in einschlägigen Internetforen auf die Minute genau nachvollziehen, dass noch während ihrer Darbietung des Adele-Songs My Same eine regelrechte Bewusstseinsexplosion bei den noch wachen Zuschauern stattfand; das Video von diesem Auftritt, das später auf der Website der Show hinterlegt wurde, wurde über 1,6 Millionen Mal aufgerufen: über zehn Mal häufiger als die beliebteste Darbietung irgendeines anderen Kandidaten. Die Juroren, die diesen Auftritt zu bewerten hatten, übersprangen alle Detailkritik, gingen gleich ins Grundsätzliche und spendeten superlativisches Lob, gipfelnd in dem Satz: “Du hast Star-Appeal; Menschen werden dich lieben!” Am Ende empfahlen alle drei unisono Lena dem Publikum als Favoritin.
Lenas fassungslose Reaktion bestätigte, was sie später immer wieder zum Ausdruck brachte: diesen Erfolg hatte sie weder vorausgesehen noch beabsichtigt oder überhaupt für möglich gehalten. Nicht einmal die Teilnahme an dieser ersten Show war ihr in den Sinn gekommen, als sie im Herbst 2009 aus einer plötzlichen Laune heraus – sie wollte im Internet Karten für tv total bestellen und meldete sich spontan für Unser Star für Oslo an – ohne Begleitung in einer einfachen Castingbox vorsang; sie wollte schlicht die Meinung von Berufstätigen aus der Entertainmentbranche hören, ob sie singen kann und gut rüberkommt. Die grelle Diskrepanz zwischen dieser rührend schlichten Motivation und der überwältigten wie überwältigenden Resonanz, die Lena bekam, zeigt sich vielleicht am deutlichsten an ihrem Auftritt in der NDR Talk Show vom 7. Mai 2010, dem Tag der Veröffentlichung ihres Debütalbums My Cassette Player. Die Videos, die in mehrfacher Ausführung immer noch auf der Internetplattform YouTube angeschaut werden können, zeigen eine Runde von mittelalten, mittelmäßig erfolgreichen, gleichwohl aber seit Jahren im deutschen Show-Zirkus fest installierten Professionals, die die Immer-noch-Schülerin mit enthusiasmierter Glückseligkeit umschmeicheln, als hätten sie es mit der Jungfrau Maria persönlich zu tun.
Diese Rezeption blieb und verfestigte sich weiter. In einer nie zuvor gekannten Häufigkeit und Konstanz etablierte sich das Attribut “verliebt” als ubiquitäre Zustandsbeschreibung insbesondere deutscher Journalisten, wenn es um Lena ging. (Vielleicht ist die verbissene Häme und humorlose Fehlersuche dieser selben Leute, die sie derzeit in ihren Publikationsmedien über Lena ausbreiten, auch Ausdruck eines verdrucksten Schamgefühls ob des eigenen Enthusiasmus vom Vorjahr, den sie gerne vergessen machen wollen wie die braven Bürger von Grasse ihren trunkenen Liebesrausch, in den sie das Parfum des Frauenmörders Grenouille versetzt hatte, den sie eben noch unter den Schlägen des Henkers hatten zerbrechen sehen wollen.) Lena selbst blieb freilich von diesen Liebesbekundungen nahezu unberührt. “Don’t believe the hype”, hatte Sänger und Juror Adel Tawil ihr mit auf den Weg gegeben; Lena hielt sich daran. Ihre anscheinend (oder darf man sagen: offenkundig) nach wie vor intakte Psyche zeigt, dass sie gut daran tat. Dass ihr das heute von den Verliebten von damals als Überheblichkeit angekreidet wird, darf ihr gänzlich wurst sein, und das ist es – ihr – auch.
Lena wollte Künstlerin werden, nun ist sie es geworden, und sie hat großen Erfolg damit. Dieser Satz ist richtig und falsch zugleich, weil ihm etwas entscheidendes fehlt: nämlich das Moment dieses geradezu irrwitzigen Zufalls, der sie irgendwann im Herbst 2009 dazu brachte, das Werbebanner für Unser Star für Oslo anzuklicken. Hätte sie das nicht getan, hätte sie ihre ursprünglichen Pläne weiterverfolgt: work & travel, Schauspielschule und dann mal schauen was kommt. Unser Star für Oslo hätte auch ohne sie stattgefunden, mit wackeren, talentierten Kandidaten, einem vergnügungsbereiten Publikum, einem Gewinner mit Aussicht für einen — na sagen wir neunten Platz in Oslo, und das Ganze hätte sich reibungslos in den deutschen Amüsierbetrieb eingereiht, ohne größere Spuren zu hinterlassen. Vielleicht wäre sogar ein neuer Max Mutzke oder eine neue Stefanie Heinzmann dabei herausgesprungen. Und niemand hätte irgendetwas vermisst.
Das muss man sich mal vorstellen…