by bates
Ich war so unglaublich nervös. Es war ein Mittwochabend im April, ich machte mich ausgehfertig, und meine Gedanken waren bei einer, die mit Fug und Recht noch aufgeregter war als ich – und wahrscheinlich just in diesem Moment kräftig gähnte. Eine junge Sängerin, die gleich das erste abendfüllende Konzert ihres Lebens geben sollte, in einer der größten Hallen der Republik. „Der Bus ist da“ – das kleine Video auf ihrer Homepage konnte ich gerade noch sehen, und ihr Herzklopfen sprang sofort über auf mich. Das war etwas Neues: keine Erwartungshaltung als Käufer einer Karte, sondern ein Mitfiebern und Mitzittern mit der Künstlerin, die in wenigen Stunden die Bühne betreten würde. Und das Wissen, dass quer übers Land ein Haufen Verrückter mitfieberte und mitzitterte und die ersten Berichte sehnsüchtig erwartete. Es war, als ginge ich nicht als Gast und Zuschauer auf ein Konzert – und, um Himmels willen, nicht als Kunde –, sondern als Teil einer verschworenen Gemeinschaft.
Ein paar Stunden später war ich der glücklichste Mensch der Welt. Im Vorfeld der USFD-Shows war unter den Fans oft von einem „zweiten Urknall“ die Rede gewesen – doch wenn es einen solchen gab, dann hatte er an diesem Abend stattgefunden. Nun stand fest: Auftritte in Fernsehshows, so sehr sie dabei glänzt, sind ein paar Nummern zu klein für Lena Meyer-Landrut, die gerade ihr erstes Konzert so gegeben hatte, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan – und doch ihr Zuhause erst zu erkunden begonnen hatte. Jemandem mit solcher Spielfreude, solcher Souveränität, solcher Präsenz, die noch in die hintersten Ränge strahlt, gebührt die große Bühne und die ganze Nacht und sonst nichts. Bei aller Unterstützung, die Lena von ihrer Crew und ihrer Band unter der Leitung des großartigen Andreas Grimm bekam – es war die beste, die sie sich wünschen konnte –, sie war es, auf die sich in diesen zwei Stunden die Blicke richteten, die durch den Abend führen und mit dem Publikum interagieren musste. Sie war die Zeremonienmeisterin. Und meine Nervosität nicht mal mehr blasse Erinnerung.
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2010 war, an „Siegen“ gemessen, das Jahr der Superlative. Aber man schmälert Lenas Leistung in ihrem ersten Jahr nicht im Geringsten, wenn man feststellt, dass es das Jahr 2011 war, in dem sie fast Unmögliches vollbrachte. In dreieinhalb Monaten, von Ende Januar bis Mitte Mai, absolvierte sie mit (fast immer) leichthändiger Professionalität und ansteckender Begeisterung einen Parcours, der selbst langjährige Profis ins Schwitzen gebracht hätte: drei Konzertabende im Fernsehen zur Prime-Time, eine Tournee vor 70.000 Zuschauern, dann – in der Doppelrolle als Teilnehmerin und Gastgeberin – die ESC-Woche, der sie mit ihren Final-Auftritten bei der Eröffnung und im Wettbewerb ein Leuchtfeuer und einen im Dunkeln glitzernden Diamanten schenkte, dazu unzählige Interviews, Fernsehauftritte und weitere Termine – und dies alles im permanenten Kreuzfeuer der Kritik. Auch daran darf man erinnern, um Lenas ungeheure Leistung zu würdigen – in ihrer sich im Überschall vollziehenden Karriere hat sie auch die unschönen Seiten des Geschäfts sehr schnell und sehr heftig erfahren müssen.
Mir scheint es überflüssig, noch einmal alle Stationen dieses Jahres Revue passieren zu lassen. Jeder, der diesen Artikel liest, kennt sie. Jeder hat miterlebt, wie das Lenaversum seine fröhliche Expansion unbeirrt fortsetzte und die Welt eine elementare Wahrheit erfuhr: Konzertbühnen ohne Lena sind zwar möglich, aber sinnlos. Und wer während der Tournee zu Gast im Fan-Forum war, wurde Zeuge einer unvergleichlichen Stimmung; aufgekratzt, glückselig und verrückt, und verliebt über alle 8.000 Ohren. Videos wurden hochgeladen und ausgetauscht, Stimm- und Stimmungsnuancen verglichen, Ansagen interpretiert, Berichte geschrieben, mal lyrisch, mal analytisch, mal hoffnungslos verwubbt: Die Fan-Gemeinschaft kannte wenig Schlaf in den drei Wochen, doch dafür Liebe im Übermaß. Und das mit Herzluftballons und Freudentränen überschwemmte Kölner Konzertfinale war zugleich krönender Abschluss und gültiges Symbol dieser drei Wochen. Was hier entstanden ist, ist so schnell nicht mehr zerstörbar. Und dies scheint mir ein Kern dieses, des zweiten Lena-Jahres zu sein.
Hypes kommen und gehen. Und jetzt, Ende 2011, kann man wohl sagen, dass der Lena-Hype wirklich vorbei ist und zumindest in dieser Form nicht mehr wiederkommen wird. Aber wo im Normalfall, vor allem im Casting-Normalfall, die Fanbase mit dem Hype zusammenbricht, da ist Lenas Fanbase davon rein gar nichts anzumerken. Mein erster Eindruck vom Juni 2010 wurde aufs Schönste bestätigt und bekräftigt: Ich fühlte mich unter den Lena-Fans nie im Zentrum des Hypes. Ein ganzes Land im Lena-Fieber, und mittendrin die Fan-Gemeinschaft als innerster Zirkel, der von den Rändern her zerfressen zu werden droht, wenn der große Kreis zusammenschrumpft? Nein, so war es nie. Weil Lena eben Lena ist, zieht sie andere Menschen in ihren Bann als Erfolgsfans und Mitläufer. Der Fan-Raum war immer außerhalb des mit Jubelmassen vollgestopften großen Saals, ein schöner eingerichtetes Nebenzimmer, näher an Lena und bewohnt von Leuten, die zwar keinen Zweifel daran hatten, dass niemand als Lena den großen Saal vollgekriegt hätte, die sich über die verrückten Auswüchse drüben auch freuten und mitmachten – und deren eigene Begeisterung davon doch unberührt ist, unmittelbarer und inniger. Die in diesem Zimmer sind, sind hier, weil sie Lena in ihr Herz geschlossen haben. Auch deswegen trägt das Kölner Finale nicht die Spur von Kitsch in sich, sondern sagt schlicht die Wahrheit.
Wenn es je Grund zum Zweifel an diesem Eindruck gab, wurde er in der zweiten Jahreshälfte 2011 zerstäubt – in der Lena in der Öffentlichkeit fast nicht stattfand, ihr betörend schön gesungener Song „What a Man“ kaum Airplay hatte und auch die Teilnahme an diversen Preisverleihungen kaum mehr als ein leises Rascheln im Blätterwald verursachte. Die Euphorie unter ihren Fans hielt indes unbeirrt an. Sie erreichte, auch befeuert durch Lenas erste persönliche Videobotschaften, sogar wieder neue Höhen. Und wenn ihre Unterstützer im wochenlangen Votingfieber dazu beitrugen, Lena bei den EMA-Awards zum besten deutschen, zum besten europäischen und fast zum Best World Wide Act zu küren, dann nicht, weil sie der Welt beweisen wollten, dass Lena die beste ist. Sondern weil sie ihre Wahl längst getroffen haben. Und weil es Freude bereitet, Lena etwas zurückzuschenken.
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In diesen Tagen erscheinen in den großen Musikmagazinen die Jahreslisten mit den besten Künstlern, den besten Alben, den besten Songs und den besten Konzerten. Lena sucht man dort vergeblich. Bei denen, die die Deutungshoheit über Popmusik beanspruchen, spielt sie nach wie vor keine Rolle. Die im Nebenzimmer ficht das nicht an; sie haben allen Grund zur gelassenen Vorfreude auf das nächste Jahr. Sie kennen Lenas bisheriges Werk in- und auswendig, sie haben jeden Schritt ihrer unwahrscheinlichen Entwicklung verfolgt, sie wissen, mit wem sie es zu tun haben.
2012 wird ein neuer Star für den ESC gesucht werden, dem, wer immer es sein mag, jeder Erfolg der Welt zu wünschen ist. 2012 werden abermals unzählige neue Gesichter in unzähligen Castingshows zu den Sternen geschossen und wieder vergessen werden. 2012 werden die Musikdeutungsbeamten abermals nie gesehene Phänomene, neue Sensationen, letztgültige Definitionen des zeitgenössischen Pop zu finden und zu beschreiben suchen. Und 2012 wird Lena ein neues Album veröffentlichen und wieder auf Tour gehen. Was passieren wird, wird gut sein. (Die Größe des Zimmers ist flexibel, für viele ist noch Platz.) Ich bin nicht mehr nervös. Und Lena wird besser sein als je zuvor.
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Nachsatz: Die meisten der unzähligen Lena-Interviews 2011 stehen völlig zu Unrecht im Windschatten des zum Skandälchen aufgebauschten Termins mit Frank Elstner, der dem stetig anwachsenden Lena-Zitateschatz mit „Danke, Handwerker“ immerhin einen Evergreen hinzufügte. Am 8.4. traf Lena in der NDR-Talkshow auf die 65-jährige Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin Eveline Hall, und es war einer jener magischen Momente, in denen man spürte, hier treffen zwei Menschen aufeinander, die sich ansehen und einander sofort begreifen. Nachdem Frau Hall Lena in den höchsten Tönen gelobt hatte, schenkte diese ihr ein Kompliment zurück (wobei „Kompliment“ vielleicht nicht das richtige Wort ist, wenn ein Mensch einem anderen aus einer impulshaften Erkenntnis heraus spontan seine Wertschätzung ausdrückt). Lena widersprach Eveline Hall, als diese meinte, sie könne in ihrem Alter mit der Schönheit der Jugend nicht mehr mithalten, und sagte: „Ich finde, man ist schön, wenn – wenn der Mensch einfach schön ist. Es kommt darauf an, wie der Mensch ist, und dann ist man schön. Und ich finde […], Sie strahlen eine wahnsinnige Freiheit und Gelassenheit aus, und das find‘ ich ganz toll.“ Genau so ist es, Lena. Nimm diese Worte ruhig an. (Das „Sie“ lassen wir mal weg.)