Obwohl die Charts seit geraumer Zeit von der Stimmwucht der R ’n’ B-Heldinnen und der Neo-Soul-Queens dominiert werden, gab es in den letzten Jahren noch ein anderes, sehr erfolgreiches Modell für Vokalistinnen im Pop: Sängerinnen, die mit zarter, manchmal leicht brüchiger Stimme Lieder nur zu sparsamer Gitarrenbegleitung vortragen. Lagerfeuermusik, eigentlich. Aber eben doch nicht ganz, weil die Zeltlager-Stimmung immer wieder durch elektronische Spielereien und Effekte verfremdet wird, die verraten, dass es sich nicht um traditionellen Folk handelt. Urban Campfire könnte eine Bezeichnung für dieses Genre sein, dem sich Songs von so unterschiedlichen Künstlerinnen wie Cat Power, Laura Veirs, Maria Solheim oder Kat Frankie zurechnen ließen. Diese Lieder verbreiten gleichzeitig Heimeligkeit und Fremdheit, Wärme und Kühle. In das rötliche Flackern des Lagerfeuers mischt sich, sozusagen, das bläuliche Schimmern des Laptop-Bildschirms.
Genau so ein Lied ist Day to Stay, geschrieben von Lena, Miss Li und Sonny Gustafsson. Die erste Strophe beginnt mit einem Blick aus dem Fenster an einem dieser noch viel zu dunklen Wintermorgen, wenn die nasse Welt sich unter dem bläulich-kalten Licht der Straßenlaternen duckt, als müsse sie bei ihrem eigenen Anblick frieren: Snowflakes outside my window, turning to rain when they hit the ground … Aufstehen und da raus? Undenkbar. Welch ein perfekter Tag, um zu zweit im Bett zu bleiben, in diesem molligen, weichen Kokon, den die zweite Strophe besingt und in dem es nur warme Farben gibt: das Gelb des Kerzenscheins, das Rot des Weines in den Gläsern, und la vie en rose beim Flackern des Kamins.
Die Musik nimmt, in bemerkenswerter Harmonie zum Text, diese beiden Elemente ebenfalls auf: Von großer Wärme und Intimität sind Lenas Stimme und die dezente, beinahe klassische Begleitung des Liedes durch akustische Gitarre und Glockenspiel – vor allem jedoch die wunderbar komponierte chromatische Basslinie der Strophe, die sich in lückenlosen Halbtonschritten von C abwärts nach G bewegt, so dass sich die Töne so eng aneinander schmiegen, wie es das tonale System überhaupt zulässt. Das Arrangement hingegen öffnet diese gemütliche Höhle unter der Bettdecke durch die kühl-synthetisch klingenden backing vocals und den massiven Einsatz von Hall, der die Weite der kalten Welt draußen hörbar macht. Das kerzenbeleuchtete Idyll drinnen wird eingehüllt von dem winterlichen Blau des heller werdenden Tages; am Ende fließt beides einträchtig ineinander in einem opulenten, von Streichern und Bläsern vergoldeten Cinemascope-Klang. Just a perfect day.
Nun steht die Rotweinflasche leer vor dem Kamin auf dem Boden, die Kerzen sind heruntergebrannt und die beiden Verliebten tanzen zu zweit zu den Rhythmen einer kleinen Jazzband. Die letzten hingehauchten La-la-las von Lena schmelzen wie Schneeflocken an der warmen Fensterscheibe. Draußen wird es wieder dunkel. Von nicht enden wollenden Liebesnächten, des nuits d’amour à ne plus finir, singt Edith Piaf in La vie en rose. In Day to Stay macht Lena die Nacht zum Tage.
Morgen: Time