Glücksgefühle finden ihren Ausdruck fast immer in irgendeiner Form körperlicher Bewegung. Glück lässt uns springen, tanzen, uns im Kreis drehen und wie Kinder auf und ab hüpfen. Jedenfalls gilt das für jene Formen des Glücks, die damit zusammenhängen, dass uns etwas besonders Schwieriges gelungen ist, wobei wir neben dem Glück häufig auch Stolz und Genugtuung, vielleicht Triumph empfinden. Das Glück ist in uns und es will raus, wie bei einem Vulkanausbruch: Der über seinen Torerfolg jubelnde Fußballer rennt über das halbe Feld und setzt am Ende noch im Galopp über die Bande.
Es gibt eine andere Form des Glücks, die sich nicht weniger intensiv anfühlt, aber ganz anders.
Es ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn man vom Leben mit etwas beschenkt worden ist, das einem die Sprache raubt, weil man nicht weiß, wie man es verdient hat – mit etwas, das durch nichts hätte erkauft oder erzwungen werden können. Dieses Glücksgefühl geht nicht einher mit Stolz oder Triumph, sondern mit Dankbarkeit, vielleicht sogar Demut. Auch hier ist das Glück mit Bewegung verbunden, aber die Bewegungsrichtung ist umgekehrt: Nicht ist das Glück in uns und bricht aus, sondern es ist in der Welt und bricht über uns herein. Deshalb rennen bei dieser Form des Glücks nicht wir wie angestochen durch die Welt, sondern die Welt scheint sich um uns wie in einem rasenden, überwältigenden Taumel zu drehen, während wir selbst still im Auge des Sturms liegen und ganz bei uns sind.
In der Bildsprache des Kinos gibt es ein häufig verwendetes Mittel, das solche Momente in bewegte Bilder bannt – den Moment, vielleicht, wenn jemand erstmalig in den Armen des geliebten Menschen aufwacht und vor Glück nicht weiß, wie ihm geschieht. Es handelt sich um die 360-Grad-Kreisfahrt mit der Kamera um ein im Zentrum des Bildes stehendes Objekt herum. So verschmelzen im ruhenden Bildmittelpunkt die beiden Liebenden, während die Welt um sie herum in wirbelnden Kreisen verschwimmt. To the Moon, geschrieben von Lena und Alexander Schroer, transponiert genau einen solchen Glücksmoment in das Medium der Musik, und ich möchte versuchen zu zeigen, wie der Song das macht. Das läuft auf den verrückten Versuch hinaus, dem Leser durch Worte gewissermaßen meine Ohren zu leihen. Wer sich darauf einlassen mag, sollte To the Moon beim Weiterlesen hören. Laut. (Doch doch, das ist mein Ernst. Ich weiß, das fühlt sich albern an. Macht nichts! Sieht ja keiner.)
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Es beginnt mit einer schwerelosen, flirrenden Gitarre, die an das Zittern der Luft an Sommertagen erinnert, und Lenas Stimme, die klingt, als liege sie im Gras und schaue in die Wolken. Mehr erzählt sie, als dass sie singt, verträumt und doch, nun, freudig erregt: You don’t know, if you could see how much I love you … Die ganze erste Strophe ist sie fast allein mit dieser Gitarre, bis an deren Ende endlich ein Basston durch die Luft geschwebt kommt, der ein paar hingehuschte Piano-Akkorde hinter sich herzieht. Jetzt liegen sie zu dritt im Gras. Bass und Piano geben Lenas Erzählung einen getragenen, bedächtigen Schritt, indem sie jeden Taktbeginn durch einen einzigen Anschlag hervorheben. So entsteht eine absteigende Linie aus drei Akkorden (C, G und F) und einer Pause, die sich von nun an beinahe ohne Unterbrechung wiederholt. Der Schlüssel zum Glück von To the Moon besteht darin, sich beim Hören des Songs ganz in diesen langsamen, gleichmäßigen Schlag fallen und von ihm tragen zu lassen und ihn – egal was passiert – nicht zu verlieren, wie bei einer Meditationsübung. It feels like my world (C) gets better (G) when you’re with (F) me (Pause), ‘cause your soul (C) is so stunningly beautiful (G) you know (F) that (Pause), a part (C) of me (G) is always yours (F) love, for life love (Pause), don’t forget (C) that (G) love (F) (Pause) … C – G – F. Pause. C – G – F. Pause. Bis zum Ende des Liedes werden Bass und die linke Hand des Pianos sanft, aber unbeirrbar nichts wesentlich anderes spielen als das. Während Lena atemlos von ihrem Glück flüstert, folgen in der Tiefe die gemächlichen Töne aufeinander im Tempo des Herzschlags eines vollkommen in Ruhe befindlichen Menschen. Es ist Lenas Herzschlag, wie sie da im Gras liegt und in den Himmel schaut – und der Herzschlag des Songs.
Und dieser langsame Herzschlag – das ist das Geheimnis – bleibt derselbe, obwohl sich nun um den kleinen Lenakopf herum die Welt immer wilder zu drehen beginnt. Plötzlich ist da ein einsamer Percussionist, ein fröhliches Shufflen, ein E-Piano kommt angeschwebt, Streicher und ein kleiner Chor von Oh-oh-Lenas mit Engelsflügeln, und alle zusammen beginnen sie, Lena zu umtanzen: I would grab some stars for you, but I know I am not allowed to, I would take a plane and fly straight to the moon, and then steal the stars and come back to you – das Streichquartett kriegt Spaß an der Sache und beginnt im Kreiseln zu schwelgen, der Rhythmus wird kräftiger, die Gitarre zieht mit, bis ein sirrendes Becken das Schlagzeug ankündigt, das sich der Sache angeschlossen hat. Das Piano kann seine Füße schon nicht mehr stillhalten und beginnt hier und da kleine Hopser und Pirouetten einzubauen, so I would colour my hair pink, blue, and green boy, for you boy, and I cook the whole day home, hope you’re satisfied, die kreisende Band wird lauter und drängender und mitreißender und fast könnte einem schwindlig werden – aber wer sich vom Herzschlag des Songs tragen lässt, hört in dessen Tiefe immer noch nichts als den langsamen, beständigen Schritt der drei Akkorde, sanft und unbeirrbar: C – G – F. Pause. C – G – F. Pause.
Oben setzen jetzt vorwärts drängende Drums ein und katapultieren den Taumel auf eine neue Umlaufbahn, die Streicher machen drei-vier kleine Luftsprünge, nehmen Anlauf und drehen sich in einer kreiselnden Spirale in den Himmel hinauf, wo sanfte Chöre Lenas Stimme umschmiegen wie ein Futteral ein kostbares Kleinod – I would grab some stars for you, but I know I am not allowed to – ab hier kann nun selbst der Bass nicht mehr an sich halten und genehmigt sich an Stelle der Pause einen vierten Ton (A), doch immer noch im ruhigen Schlag von Lenas Herz. Alle werden sie schließlich von der Leine gelassen zu einem wild ausgelassenen Intermezzo, das Fender Rhodes tobt sich aus, die Streicher hüpfen auf und ab, irgendwo fliegt noch ein Banjo mit, und selbst der Bass darf jetzt ein bisschen mittanzen. So reißen sie sich gegenseitig hoch ins All, von wo wir auf Lena als kleinen Punkt im Gras herunterblicken. Sie ist wieder fast allein mit der Gitarre, als sie mit leiser Stimme zu dem kommt, was ihr geschenkt worden ist – I know that you feel the same for me as I do, pretty sure that I know what I’m talking about – und als sie das hört, jagt die Band wieder vom Himmel herab und reißt die ganze Welt mit in den Taumel, der sich um Lena dreht, die nun will, dass alle es hören: I would take a plane and fly straight to the moon, and then steal the stars and come back to you. Eine wilde Umdrehung folgt auf die nächste, die Streicher fliegen davon und lassen eine zweite Lenastimme in Richtung Mond aufsteigen. Doch unberührt von dem Reigen schlägt dort unten in der Tiefe unverändert das Herz – C – G – F – A … – ruhig, bedächtig und unangreifbar in dem Wissen darum, was es empfangen hat: I am true. It’s real boy.
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Es gibt diese Momente des Glücks, in denen die Welt sich um uns wie in einem rasenden, überwältigenden Taumel zu drehen scheint, während wir selbst still im Auge des Sturms liegen und ganz bei uns sind. In To the Moon erzählt Lena von einem solchen Moment des Glücks, und indem sie davon erzählt, erschafft sie einen neuen. Der Song selbst ist ein solcher Glücksmoment. Erwähnte ich, dass er mein Lieblingsstück auf Stardust ist? Er vermag den Hörer in genau die Stimmung zu versetzen, von der er handelt. Mehr emotionale Wucht kann ein Stück Musik nicht entwickeln. To the Moon ist ein Popsong nah an der Grenze zur Vollendung – almost perfect.